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Kurze Charakterisierung des Denkens von Hans Kilian

Hans Kilian, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1984 Professor für Sozialpsychologie und Angewandte Psychoanalyse an der Universität Kassel, vertrat zeitlebens eine sozial- und kulturtheoretisch fundierte Psychologie und Psychoanalyse, die die Entwicklung des einzelnen Menschen eng an die historisch-gesellschaftliche Entwicklung koppelte. Geschichte, Gesellschaft und Person erscheinen in dieser Perspektive als eng miteinander verflochtene 'Angelegenheiten'.

Kilian entwarf die Grundzüge einer Theorie der Evolution des Menschen, die er in drei Stadien unterteilte (denen spezifische Modi der Entwicklung korrespondieren). Die biologische Menschwerdung heißt "Hominisation". Sie wird in erster Linie über die Gene vermittelt, deren Ausprägung und Auslese durch epigenetische Faktoren und Umwelteinflüsse beeinflusst werden. Das zweite Stadium vollzieht sich als "Humanisation", deren Verlauf die Sozialisation und Enkulturation des Menschen enthält (bis hin zu einer von Kilian transkulturell genannten Entwicklung).

Kilians (Fragment gebliebene) Theorie des dritten, von ihm als "metakulturelle Humanisation" bezeichneten Stadiums begreift die postmoderne Gegenwart als eine Epoche, in der wir uns auf einer neuen Stufe der Menschheitsentwicklung befinden (und diese Entwicklung selbst zu lenken haben).

Diese Theorie basiert nicht zuletzt auf einer Zeitdiagnose, die von einer wachsenden Kluft zwischen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung einerseits, der kulturellen, sozialen und psychischen Entwicklung des Menschen andererseits ausgeht. In der dynamischen und differenzierten, in vielerlei Hinsichten globalisierten Welt sind im Laufe des 20. Jahrhunderts stets neue Herausforderungen und Anforderungen auf den Menschen zugekommen.

Kilians Überlegungen waren eingebettet in eine Rekonstruktion der sozialen (und kulturellen) Evolution des Menschen. Sie liefen auf ein historisch fundiertes, überlieferte Auffassungen revidierendes Welt- und Selbstverständnis des postmodernen Menschen hinaus.

Die Anthropogenese betrachtete Kilian, wie oben skizziert, als einen in sich differenzierten Prozess, der – in komplexer Weise koevolutiv – sowohl biologische als auch kulturelle, soziale und psychische Entwicklungen beinhaltet.

Bei der theoretischen Analyse dieser Entwicklungen bediente sich Kilian vielfach naturwissenschaftlicher Begriffe und Modelle (aus der Biologie und Physik vor allem), die er – oft durch Analogiebildung – ins Feld der historischen Sozial- und Kulturwissenschaften, einschließlich der zeitgenössischen Psychologie, Psychoanalyse und Psychohistorie, übertrug.

Kilian nahm an, dass die mehrgliedrige Evolution – nach erkennbaren Gesetzen – in geschichtlichen Stadien mit besonderen Merkmalen verlaufe. Die Erkenntnisse seiner historischen Theorie der sozialen (und kulturellen) Evolution, die von parallelen psychischen Entwicklungen begleitet wird bzw. (in Zukunft) begleitet werden müsste, ließen sich, so Kilian, für die "Steuerung" künftiger evolutionärer Prozesse nutzbar machen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts vollzog sich nach Kilian ein evolutiver und historischer Strukturwandel, der ein neues, tief in Traditionen und Gewohnheiten eingreifendes Denken und Handeln erfordere. Das 20. Jahrhundert betrachtete Kilian als eine Umbruchphase, die durch vielfache (funktionale, kulturelle, soziale) Differenzierungsprozesse und damit verwobene Komplexitätssteigerungen bislang unbekannten Ausmaßes hervorgerufen wurde.

Auf die enorm gewachsene Komplexität (und Dynamik einer beschleunigten und rapide sich wandelnden Kultur und Gesellschaft) reagieren Gruppen und Personen mit dem Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion (und der damit verbundenen Hoffnung auf Wiedergewinn von Orientierungssicherheit). 

In Kilians eigenen Worten:

"Mir ist sehr früh aufgefallen, dass es ein fundamentales menschliches Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion, nach Vereinfachung gibt, das bei Überstimulation besonders vehement auftritt. Es übernimmt die Führung wie eine Notfallreaktion. Komplexität, die sich steigert, schafft Konfusion und Verwirrung, die in der Weimarer Zeit in der Tat in kollektivem Ausmaß gegeben war. Die Komplexitätsreduktion im kollektiven Leben kann durch Schaffung von Ordnung, von Einheit mit Disziplinierung erfolgen und notfalls – wie es die Tradition in der Herrschaftskultur war – durch Kriege, verbunden mit der Tötung von Menschen. Kriege waren in früheren Zeiten unter Umständen Ventile für Gesellschaften, die mit der Komplexität ungelöster kollektiver Probleme belastet waren. Man verfällt in ein polarisierendes, vereinfachendes Freund/Feind-Denken (begleitet von den Schuldzuweisungen wie 'Die Juden sind an allem Schuld'), das dazu dient, die Komplexität zu reduzieren."

Kilian fokussierte in seinen Analysen immer wieder inadäquate, kontraproduktive und letztlich destruktive Komplexitätsreduktionen. Dazu zählte er – wie das exemplarische Zitat deutlich macht – die Neigung zu vorschnellen Scheinlösungen, die Sehnsucht nach Palliativen oder trügerischen Vereinfachungen, die Tendenz zur Konstruktion ideologischer kollektiver und sozialer Identitäten sowie zu exkludierenden Freund/ Feind-Differenzierungen, die Einkapselung des Selbst in geschlossenen Strukturen, etc.

Diesen inadäquaten Formen stellte er Modi der Komplexitätsreduktion gegenüber, die erst durch die differenzierte Benennung der wahren Ursachen der gegebenen Probleme möglich würden. Um solche adäquaten Lösungen für die vielfältigen kulturellen, sozialen und psychischen Probleme des Menschen in der spät- oder postmodernen Ära zu finden, versuchte Kilian Erkenntnisse aus verschiedenen Sozial- und Kulturwissenschaften, einschließlich der zeitgenössischen Psychologie mit ihren Subdisziplinen (wie der Sozial- oder Entwicklungspsychologie, der Klinischen Psychologie und Psychopathologie) zusammenzuführen und systematisch zu vernetzen. Im Zentrum seines Denkens stehen dabei stets der geschichtliche Mensch und seine sozialen Beziehungen (innerhalb der Familie, in anderen Kleingruppen, in größeren Gemeinschaften und abstrakten Systemen wie der Gesellschaft und global vernetzten Menschheit).

Wie andere Denker seiner Zeit fordert Kilian umsichtige und nachhaltige Erneuerungen soziokultureller Ordnungen und psychosozialer Kompetenzen, die neben kognitiven Ressourcen auch und vor allem emotionale Kompetenzen wie Empathie und Solidarität, Toleranz und die Fähigkeit zur Anerkennung von Anderen und Fremden betreffen. Noch einmal in Kilians eigenen Worten:

"Die Lebensbedingungen der postmodernen Gesellschaft sind derart, dass sowohl die einzelnen Menschen als auch die Gruppen, Schichten und Gemeinwesen, die ihre gemeinsame Entwicklung in Freiheit organisieren wollen, einerseits einer erhöhten Anforderung an Stabilität, Autonomie, Selbstorganisation und Selbstkonstanz ausgesetzt sind, andererseits zugleich aber einem erheblich gewachsenen Erfordernis des sich Einlassens auf fremde Menschen und Gruppen genügen müssen, mit denen sie im gleichen Felde wechselseitiger Abhängigkeit wie unter einem Dach zusammenleben und zusammenwirken müssen. Es ist dies eine erhöhte Anforderung, bei sich selbst zu bleiben oder sich selbst treu zu bleiben und dennoch einen empathischen Umgang mit Fremden, mit Andersdenkenden oder Andersfühlenden und sehr oft auch Gegnern zu pflegen, mit denen man – mit einem Wort der politischen Alltagssprache der Franzosen ausgedrückt – nun einmal "kohabitieren" muss, damit die Entwicklung weitergehen kann. Anders ausgedrückt: Selbstkonstanz und Empathie sind Eigenschaften, die denen, die sie entwickeln, in der Realitätsstruktur der Gegenwart einen Selektionsvorteil verschaffen. Diese hypothetische Aussage lässt sich noch erweitern. Die Nächstenliebe und sogar die Feindesliebe, die in der gesellschaftlichen Realitätsstruktur früherer Felder der historischen Evolution weithin utopisch blieb oder auf den Aktionsradius schuldgefühlkompensierender guter Werke beschränkt blieb, könnte im anbrechenden Erwachsenenalter einer postmodernen Menschheit einen Kairos finden, der sie zu einem eutopischen Wert und zu einem tragfähigen Organisator weiterführender Entwicklung macht."

Kilian hielt das Erlernen neuer Wahrnehmungsformen für ebenso unumgänglich wie die Ausbildung eines erweiterten Vorstellungsvermögens. Den differenzierten sinnlichen, "aisthe­ti­schen" und imaginativen Vermögen sowie den emotionalen Fähigkeiten sollte schließ­lich eine geschärfte kognitive Kompetenz zur Seite stehen, die es gestattet, für die rapide sich wandelnde, stetig komplexer werdende Wirklichkeit passende Begriffe, triftige Beschreibungs- und adäquate Erklärungsschemata zu finden. Kilian sprach auch von einem zu entwickelnden "vierdimensionalen Wirklichkeitssinn" bzw. einem "metamorphologischen Bewusstsein", das den neuen, dynamischen Verhältnissen in der postmodernen Welt in angemessener Weise Rechnung trage.

Eine permanenten Transformationen unterworfene Welt betrachtete Kilian als eine Wirklichkeit, die im Hinblick auf die zentralen, die Lebensbedingungen verändernden Metamorphosen diagnostisch und prognostisch sachgerecht zu erfassen sei. Dies war die Aufgabe eines metamorphologischen Bewusstseins, das letztlich im Dienst einer überlebensfähigen und lebenswerten Praxis stehen sollte. Bei der theoretischen Konzeptualisierung dieses zeitgemäßen Bewusstseins übte Kilian Kritik an traditionellen Begriffssystemen und Denkformen (wie etwa dem überlieferten philosophischen "Substanzdenken" oder den althergebrachten kategorialen Trennungen von Subjekt und Objekt oder Theorie und Praxis).

Das normative Fundament und im weitesten Sinne politische Ziel von Kilians inter- und transdisziplinären wissenschaftlichen Bemühungen war offensichtlich stark geprägt von den exzessiven Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert und einer bis heute sich fortsetzenden Selbstentfremdung des Menschen. Kilians Denken ließe sich zusammenfassend und formelhaft als erneuerter Humanismus im Zeichen einer metakulturellen Humanisation bezeichnen, die in unserer postmodernen Moderne notwendig, ja unumgänglich geworden ist. Kilians historisch aufgeklärte, gegenwartsdiagnostische Reflexionen bezeugen vielfach seine Skepsis und kritische Haltung gegenüber zahlreichen Erscheinungen und Entwicklungen (tatsächlichen oder möglichen). Sie zeigen, alles in allem, einen nachdenklichen, inter- und transdisziplinär arbeitenden Wissenschaftler, keineswegs aber einen pessimistischen oder gar resignierten Beobachter seiner Zeit. Kilian sah das „Erwachsenenalter der Menschheit“ noch vor uns liegen: "Die Entwicklung geht insgesamt vom Herrschaftsdenken zu einem solidarischen Entwicklungsdenken. Mich stimmt dies hoffnungsvoll."

 

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